30.03.2022

PROJEKTFOKUS: ZUGANG ZUR GESUNDHEITSVERSORGUNG FÜR OBDACHLOSE UND AUSGEGRENZTE MENSCHEN IN DER SCHWEIZ

Welche Hilfe erhalten obdachlose oder ausgegrenzte Menschen, die aufgrund ihrer Lebensumstände sehr oft mit gesundheitlichen Problemen zu kämpfen haben? Wir finanzieren das Projekt unserer Partnerorganisation Médecins du Monde Schweiz, die den am stärksten gefährdeten Menschen essentielle Unterstützung bietet. Als Schlüsselpersonen dieses Projekts haben drei Beteiligte unsere Fragen beantwortet.

Welche Hilfe erhalten obdachlose oder ausgegrenzte Menschen, die aufgrund ihrer Lebensumstände sehr oft mit gesundheitlichen Problemen zu kämpfen haben? Wir finanzieren das Projekt unserer Partnerorganisation Médecins du Monde Schweiz, die den am stärksten gefährdeten Menschen essentielle Unterstützung bietet. Darin werden Menschen in sehr prekären Lebenslagen von Gesundheitsfachleuten begleitet, die in den Notunterkünften und Empfangsstrukturen des Kantons Waadt Bereitschaftsdienste leisten. Durch ihr Eingreifen kann in vielen Fällen verhindert werden, dass sich die Situation dieser Menschen verschlechtert.

Valentina Sardella,

Projektverantwortliche bei Médecins du Monde Schweiz, hat zur Konzeption und Umsetzung des Projekts beigetragen.

Gaël Glories,

Projektkoordinator und Pflegefachmann, leistet pflegerische Bereitschaftsdienste in den Notunterkünften und Tageszentren auf Lausanner Boden.

Aline Forgerit,

Pflegefachfrau, leistet pflegerische Bereitschaftsdienste in den Einrichtungen der Stiftung Mère Sofia, der Caritas sowie in den Städten Vevey und Yverdon-les-Bains.

Als Schlüsselpersonen dieses Projekts haben sie unsere Fragen beantwortet.

Seit dem Beginn des Projekts ist mehr als ein Jahr vergangen. Welche Bilanz können wir ziehen?

In dem einen Jahr unserer Tätigkeit haben wir 1’647 anonyme, kostenlose und spontan durchgeführte Beratungen in den Notunterkünften und Tageszentren durchgeführt.

Die von uns betreuten Personen sind mit prekären Lebensbedingungen konfrontiert. Sie haben kein oder nur ein geringes Einkommen, sind sozial isoliert, haben keinen festen Wohnsitz, halten sich illegal auf, kennen die Verfahren für den Zugang zu kostenloser medizinischer Versorgung nicht und/oder sprechen keine Landessprache. Die meisten der von uns untersuchten Personen leiden an psychosozialen Störungen (18%), Hauterkrankungen (17%), dermatologischen Wunden und Verletzungen, Muskel- und Skelettschmerzen (15%) oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen (13%).

 

Wie kann man Menschen, die in unsicheren Unterkünften oder auf der Strasse leben, angemessene Unterstützung bieten?

Die Notunterkünfte im Kanton Waadt haben einen grossen Bedarf in Bezug auf den Zugang zur Gesundheitsversorgung für Menschen in prekären Verhältnissen festgestellt. Diese Bedürfnisse waren der Anlass für dieses Projekt.

Durch die wöchentliche Anwesenheit einer Pflegefachkraft können die gesundheitlichen Probleme der untersuchten Personen behandelt und ein Gang in die Notaufnahme vermieden werden. Häufig suchen Betroffene keine herkömmlichen Gesundheitseinrichtungen auf, weil sie Angst vor der Behörde oder der Rechnungsstellung (wie bezahlen) haben oder über keinen gültigen Aufenthaltsstatus verfügen. Ihr Gesundheitszustand kann sich dann verschlechtern: Es treten Komplikationen auf oder es entwickeln sich chronische Krankheiten, die eine langfristige Betreuung nach sich ziehen. Die Kosten sowie die personellen und materiellen Investitionen sind dann viel höher.

Bei den Konsultationen hat die Pflegefachkraft folgende Aufgaben:

 

Inwiefern verstärkt die Coronavirus-Pandemie die prekäre Lage von Obdachlosen?

Die Schutzmassnahmen zur Eindämmung der Coronavirus-Pandemie hatten Auswirkungen auf die gesamte Gesellschaft. Dies gilt auch für viele Betreuungseinrichtungen, die ihre Türen schliessen, ihre Leistungen einschränken oder Telefonbereitschaftsdienste einrichten mussten. Diese Einschränkungen erhöhten die soziale Isolation der obdachlosen und gefährdeten Menschen im Kanton Waadt.

Während der verschiedenen Wellen der Pandemie kamen wir mit diesen Menschen in Kontakt. Sie befanden sich in einer immer grösser werdenden Armut. Der Rückgang der Schwarzarbeit und der Verlust des Arbeitsplatzes für diese ohnehin schon betroffenen Menschen verringerten die Aussichten auf ein „Überleben“ und eine potenzielle Stabilität.

Menschen, die einen Integrationsprozess durch die Arbeit, die Wohnsituation oder die Mitgliedschaft in einer Krankenversicherung begonnen hatten, sahen sich mit Verdienstausfällen konfrontiert, die zu erheblichen Situationen der Vulnerabilität führten. Da sie nicht für alle Kosten zugleich aufkommen können, müssen diese Menschen eine Wahl treffen und verschulden sich mit Betreibungen oder verspäteten Mietzahlungen. Ihre Integration ist dadurch gefährdet.

 

Wie wird das Projekt von Médecins du Monde Schweiz den Bedürfnissen dieser Menschen gerecht?

Menschen in prekären Situationen haben die Möglichkeit, Gesundheitsfachleute zu konsultieren: Darin liegt die Bedeutung dieses Projekts. Diese Menschen können dann gesundheitsbezogene Beratung und Pflege erhalten, die das Risiko von psychosozialen Störungen oder langfristigen chronischen Krankheiten verringern.

Das Projekt ist auch Teil einer breiteren Perspektive der Gesundheitsförderung und der Verringerung sozialer Ungleichheiten im Zusammenhang mit dem Zugang zur primären Gesundheitsversorgung. Der Patient oder die Patientin kann auch innerhalb eines bereits bestehenden sozialen und medizinischen Netzwerks verwiesen werden oder von neuen Möglichkeiten profitieren, die den Zugang zu den Gesundheitsstrukturen des Kantons Waadt erleichtern. Betroffenen können Überweisungsscheine ausgehändigt werden. Diese ermöglichen es den Patientinnen und Patienten, sich sicherer zu fühlen, um Einrichtungen aufzusuchen. Es wird auch eine Betreuung unter den regulären Strukturen des Waadtländer Gesundheitssystems gewährleistet.

Ein (ehrenamtlicher) Bezugsarzt ist telefonisch erreichbar, um bei Bedarf Fragen zu beantworten. Mit dem Bezugsarzt wird auch daran gearbeitet, Prozesse zu definieren, wenn sich Situationen allenfalls wiederholen.

Das Zuhören und die Beziehungspflege sind ebenfalls ein sehr wichtiger Teil dieses Projekts.

Die humanitäre Hilfe ist für uns die Gelegenheit, mit diesem Projekt Werte der Solidarität und des menschlichen Engagements zu verdeutlichen, die alle Gräben überwinden. Das Recht auf eine Unterkunft oder der Zugang zu grundlegender Gesundheitsversorgung müssen niederschwellig zugänglich sein und von Organisationen wie den unseren verteidigt werden.

Können Sie uns eine Anekdote, eine Begegnung oder eine Erfahrung mitteilen, die Sie bei Ihrer Arbeit mit obdachlosen Menschen beeindruckt hat?

Bei den ersten Sprechstunden trafen wir Max*, der seit über fünf Jahren in der Schweiz obdachlos ist. Für ihn ist Unterstützung in der Schweiz enorm schwierig. Er nimmt kein System mehr in Anspruch: Sozialhilfe, administrative Hilfe, Kranken- und Rentenversicherung. Er besucht nur sehr selten die Einrichtungen der Gesundheitsversorgung. Unsere Anwesenheit und das entstandene Vertrauensverhältnis ermöglichten es, seine spezifischen gesundheitsbezogenen Probleme anzugehen und die Risiken zu verringern, damit seine bereits sehr prekäre und verletzliche Situation nicht noch prekärer wird.

*Name geändert

Eine Person mit kamerunischem Migrationshintergrund zog sich bei ihrer Ankunft in der Schweiz eine Lungenkrankheit zu, die auf eine unbehandelte Infektion zurückzuführen war. Während unserer Sprechstunden in den Unterbringungsstrukturen erhielt diese Person unsere Überweisungsscheine und konnte so mit dem Dienst von Unisanté in Kontakt treten. Wir arbeiteten mit den verschiedenen Fachleuten zusammen, damit diese Person eine spezifische Betreuung und eine besondere Behandlung erhalten konnte. Heute ist ihre Krankheit als chronisch anerkannt und sie hat das Recht auf eine Wohnung.

 

Wie beurteilen Sie die Zusammenarbeit mit der Glückskette? Reichen die öffentlichen Gelder nicht aus, um Grundbedürfnisse wie eine garantierte Unterkunft zu erfüllen?

Die Zusammenarbeit mit der Glückskette ist für eine Organisation wie Médecins du Monde Schweiz von zentraler Bedeutung. Die erhaltenen Gelder haben es uns ermöglicht, dieses Projekt zu lancieren und einer äusserst verletzlichen Bevölkerungsgruppe den Zugang zur Gesundheitsversorgung zu gewährleisten. Ohne diese Unterstützung hätte das Projekt nicht so schnell beginnen und sich in den zwei Jahren entwickeln können.

Öffentliche Gelder existieren und entsprechen oft politischen Überlegungen, die nicht mit den realen Bedürfnissen vor Ort übereinstimmend sind. Die Arbeit von Médecins du Monde Schweiz besteht insbesondere darin, die bestehenden Bedürfnisse vor Ort aufzuzeigen und sich bei den öffentlichen Institutionen dafür einzusetzen, den allgemeinen Zugang zur medizinischen Grundversorgung in ihre Tätigkeiten zu integrieren und den Dienst nachhaltig zu gestalten.

Unsere News

Wenn Sie Fragen haben oder mehr über unsere Stiftung erfahren möchten, freuen wir uns auf Ihre Kontaktaufnahme.